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Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus dem Online-Shop: Müssen Arbeitgeber Lohn fortzahlen?

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus dem Online-Shop: Müssen Arbeitgeber Lohn fortzahlen? Posted on 1. Juni 2023

„Hallo! Ich bin heute Dein Online-Arzt. Was brauchst Du heute? Wähle eine Option aus: AU-Schein oder Cannabisrezept.“ Bekommen Arbeitgeberinnen oder Arbeitgeber eine Online-Krankschreibung, können sie die Entgeltfortzahlung für die Beschäftigten anzweifeln. In welchen Fällen das möglich ist, erklärt Ecovis-Arbeitsrechtler Gunnar Roloff in Rostock.

Auf den Internetseiten dransay.com und au-schein.de wird unter anderem mit dem einfachen und schnellen Erhalt von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AUB) gegen Bezahlung geworben. Der Patient (oder Kunde) kann hierbei wählen, ob ein Arzt die AU-Bescheinigung in fünf Minuten ohne Arzt-Gespräch erteilen soll oder ob der Kunde einen Videochat wünscht. Bei „misstrauischem Arbeitgeber“ rät der Anbieter zu einer AUB mit Videochat. Dann sei die Akzeptanz bei Arbeitgebern zu 100 Prozent garantiert.

Ob nun misstrauischer Arbeitgeber oder nicht: Wenn der in Berlin wohnhafte Arbeitnehmer mit Erkältungssymptomen dem Arbeitgeber eine AUB einer in Hamburg ansässigen Gynäkologin übergibt, drängen sich Zweifel auf. In einem Fall, der vor dem Arbeitsgericht Berlin (42 Ca 16289/20) verhandelt wurde, „bestellte“ der Arbeitnehmer die AU-Bescheinigung über das Portal au-schein.de. Er erhielt sie gänzlich ohne Kontakt zum Arzt. „Nicht in jedem Fall muss der Chef Entgeltfortzahlung leisten, selbst wenn der Mitarbeiter eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt“, erläutert Ecovis-Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Gunnar Roloff in Rostock die Hintergründe.

Nicht bei jeder AU-Bescheinigung Entgeltfortzahlungsanspruch

Arbeitnehmer haben einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung bis zu sechs Wochen, wenn sie infolge einer unverschuldeten Krankheit arbeitsunfähig sind. Als Nachweis der Arbeitsunfähigkeit sieht das Gesetz ausdrücklich die ärztliche Bescheinigung vor.

Einer solchen AUB kommt grundsätzlich ein hoher Beweiswert zu. Voraussetzung hierfür ist, dass die AUB ordnungsgemäß, das heißt unter Beachtung aller Vorschriften, ausgestellt wurde. Bei einer gänzlich ohne Arztkontakt – also weder persönlich noch über Telefon oder Videochat – bescheinigten Arbeitsunfähigkeit ist dies nicht der Fall. Die AUB ist somit nicht als Beweis für die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers geeignet: Dann kann der Arbeitgeber die Lohnfortzahlung berechtigt verweigern.

Eine per Videochat erteilte AUB kann dagegen grundsätzlich eine ordnungsgemäße AUB sein. Sowohl das allgemeine Berufsrecht für Ärzte als auch die speziellen Regelungen für Vertragsärzte geben zwar den persönlichen Arztkontakt als Grundsatz vor, lassen aber mittlerweile unter bestimmten Voraussetzungen auch reine Fernbehandlungen zu. Sofern der Arzt oder die Ärztin die Behandlung per Videochat (oder Telefon) aus ärztlicher Sicht für vertretbar hält und die erforderliche ärztliche Sorgfalt gewahrt ist, ist eine ausschließliche Fernbehandlung im Einzelfall erlaubt. „Allein die Tatsache, dass der Arbeitnehmer über die Portale au-schein.de oder dransay.com an die AUB gelangt ist, führt demnach nicht zu einer Minderung des Beweiswerts der AUB“, erklärt Roloff.

Wann Arbeitgeber eine AU-Bescheinigung anzweifeln können

Um den Beweiswert einer AUB zu erschüttern, muss es ernsthafte und objektiv begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers geben. Ist die AUB durch einen fernab vom Wohnort des Arbeitnehmers ansässigen oder gar ausländischen Arzt ausgestellt, kann das bei der Begründung helfen. Wenn der Arbeitnehmer hierzu noch nach einer Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber angekündigt hat, von der Arbeit fernzubleiben oder eine Eigenkündigung ausgesprochen hat, kann das die Verweigerung der Lohnfortzahlung rechtfertigen. „In diesem Fall ist sogar eine außerordentliche, fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber denkbar“, sagt Roloff.

Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit eines Beschäftigten bestehen beispielsweise auch dann, wenn

  • Arbeitnehmer auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind,
  • der Beginn der Arbeitsunfähigkeit sehr oft auf einen Arbeitstag am Anfang oder Ende einer Woche fällt oder wenn
  • die AUB von einem Arzt festgestellt wurde, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen auffällig geworden ist.

Die Beweiskraft der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist auch dann erschüttert, wenn ein Arbeitnehmer langzeit erkrankt ist und sich die AUB verschiedener Ärzte mit unterschiedlichen Diagnosen im Sechs-Wochen-Rhythmus nahtlos aneinanderreihen. „Auf diese Weise versuchen Arbeitnehmer, den Entgeltfortzahlungsanspruch jeweils neu zu begründen und über die sechs Wochen hinaus auszudehnen“, berichtet Roloff aus seiner praktischen Erfahrung. Einen Beweis für die Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers muss der Arbeitgeber nicht erbringen.

Zweifelt der Arbeitgeber an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers, will aber nicht (gleich) das Risiko einer gerichtlichen Auseinandersetzung durch die Verweigerung der Entgeltfortzahlung eingehen, kann er von der Krankenkasse verlangen, dass sie den Medizinischen Dienst (MD) einschaltet. Dieser überprüft dann die Arbeitsunfähigkeit. Diese Möglichkeit besteht zumindest bei gesetzlich versicherten Arbeitnehmern. „Die Erfahrung zeigt jedoch, dass dieses Verfahren selten zu dem vom Arbeitgeber gewünschten Ergebnis führt“, weiß Ecovis-Rechtsanwalt Roloff.

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